Objektive Hermeneutik (engl.: Objective Hermeneutics)

Von Ulrich Oevermann (1979) entwickeltes Verfahren der kontrollierten hermeneutischen Auswertung vor allem von Interviews oder (protokollierter) natürlicher Kommunikation. Es lassen sich zwei wesentliche Aspekte unterscheiden:

  1. Die dem Verfahren zugrundeliegenden Annahmen über die soziale Wirklichkeit (und darüber, wie sie den SozialforscherInnen vorliegt), und
  2. die konkreten methodischen Operationen bei der Interpretation.

Nicht wenige qualitative ForscherInnen sind der Ansicht, dass das Auswertungsverfahren auch dann gewinnbringend eingesetzt werden kann, wenn man die zugrundeliegenden Annahmen nicht teilt.

ad 1:

Die O. H. geht – wie jedes hermeneutische Verfahren – davon aus, dass die soziale Wirklichkeit sinnhaft ist. Die O. H. interessiert sich jedoch nicht nur, genauer: allenfalls in zweiter oder dritter Linie, für den subjektiv gemeinten (intendierten) Sinn, also den Sinn, den die sprechenden oder handelnden Subjekte ihren Äußerungen oder Handlungen beilegen, sondern vorrangig für die »objektive Sinnstruktur«.

Ein einfaches Beispiel möge dies verdeutlichen: An der Äußerung »ich liebe dich« interessiert in der O. H. nicht in erster Linie, ob die Aussage tatsächlich mit den Intentionen der/s Sprecherin/s ›übereinstimmt‹ (also aufrichtig ist), sondern welche Funktion diese Äußerung in dem Kommunikationszusammenhang, in dem sie steht, besitzt: Sie kann – als ›Beschwörung‹ eines gemeinsamen übergreifenden Zusammenhanges in einer Paarbeziehung – den Sinn haben, den Partner/die Partnerin aktuell in eine gleichsinnige Gefühlslage zuversetzen, sie kann etwa in einem Streit den Partner zum Einlenken zu bringen versuchen, sie kann als Immunisierung gegen Kritik gemeint sein – ›gemeint‹ aber nicht in dem Sinne, dass dies der Sprecherin/dem Sprecher bewusst sein muss!

Aus diesem Anspruch, vor allem auf die ›objektive Sinnstruktur‹ von Kommunikationszusammenhängen gerichtet zu sein, leitet sich der Name O. H. ebenso ab wie aus dem weitergehenden Anspruch auf objektive Gültigkeit der mit Hilfe des Verfahrens gewonnenen Ergebnisse.

Der Anspruch, den ›objektiven Sinn‹ von Handlungen, Äußerungen oder Interaktionen herauszuarbeiten, wird auch als Ziel formuliert, die generativen Strukturprinzipien des Falles zu untersuchen. Zugrunde liegt dem die Annahme, dass der untersuchte Fall durch Regeln hervorgebracht wird, die eben – wie etwa Grammatikregeln – den Beteiligten häufig nicht bewusst sind. Grundsätzlich zielt die O. H. auf die Analyse einzelner Fälle, da Generalisierung für sie bedeutet, in den einzelnen (Handlungs-, Sprach-, Interaktions-)Segmenten die für den vorliegenden Fall zutreffenden »Strukturprinzipien« zu ergründen. Eine Generalisierbarkeit im statistischen Sinne (etwa: wie häufig treten gleichartige Fälle in einer gegebenen Grundgesamtheit auf?) wird nicht angestrebt.

Analysegegenstand der O. H. sind immer Texte, genauer: Textprotokolle. Diese können sich durchaus auf nicht-sprachliches Material beziehen, wenn auch protokollierte sprachliche Äußerungen meist im Zentrum der Analyse stehen. Was aber den Forschenden als Material zur Verfügung steht, ist immer Text – also z. B. ein Protokoll über beobachtete nicht-sprachliche Handlungen –, weil andere Datengrundlagen für die Interpretation (und auch deren Mitteilung) nicht denkbar sind. (Angesichts neuer Medien wie dem Internet steigen sicherlich in Zukunft die Möglichkeiten, nicht-sprachliche Protokolle, etwa Audio- oder Video-Aufnahmen, zu interpretieren und diese Protokolle zusammen mit den Interpretationen anderen zugänglich zu machen. Das ändert aber nichts daran, dass auch Video-Aufnahmen »Texte« sind im Sinne fixierter, vermittelter und perspektivischer Repräsentationen. Auch eine Video-Aufnahme zeigt nicht »das« Geschehen!)

Wie schon angedeutet, sind die hier skizzierten Grundannahmen, vor allem diejenigen einer »generativen Struktur«, die – so lauten die Einwände – »über den Köpfen der Subjekte hinweg« wirksam sein soll, umstritten (siehe Reichertz 1986 oder Schneider 1985).

ad 2:

Im Kern des methodischen Vorgehens steht die sequentielle Analyse von (Interaktions-, Interview- oder anderen) Protokollen. In dieser Analyse werden in einem abduktiven Verfahren Lesarten des Textes zunächst erzeugt und dann sukzessive ausgeschieden, so dass sich mit der Zeit eine Deutungshypothese über die Fallstruktur ergibt. Diese Deutungshypothese kann und muss dann an anderen Textausschnitten (oder gegebenenfalls anderem Datenmaterial) so lange geprüft werden, bis entweder die ursprüngliche Deutungshypothese verworfen und eine neue Hypothese dem Prüfungsverfahren unterzogen werden muss, oder die ursprüngliche › bzw., wenn diese sich als nicht haltbar erwiesen hat, eine weitere › Deutungshypothese sich als die mit dem Material am besten verträgliche erweist.

Im einzelnen sind dabei, wie Wernet (2000) herausgearbeitet hat, folgende Regeln zu beachten:

  • Kontextfreiheit: Im ersten Analyseschritt ist vom Wissen um den Kontext, aus dem eine Äußerung stammt, zu abstrahieren, mit dem Ziel, gedankenexperimentell mögliche Kontexte der Äußerung zu entwerfen.
  • Wörtlichkeit: Der vorliegende Text ist Grundlage der Interpretation, wie widersprüchlich er auch sein (oder scheinen) mag; ›Fehler‹, Versprecher etc. haben genau so große – wenn nicht größere – Bedeutung wie ›unauffällige‹ Äußerungen.
  • Sequentialität: Die Analyse beginnt in der Regel mit der ersten Äußerung eines Interaktions- oder Interviewsegments, und für die Interpretation dürfen unter keinen Umständen Äußerungen herangezogen werden, die auf diese erste Äußerung folgen. Vielmehr werden zunächst möglichst viele Lesarten des ›objektiven Ssinns« der ersten Äußerung erzeugt. Erst dann wird die nächste Äußerung (oder der nächste Interaktionsschritt) herangezogen und ihrerseits – wieder unter Nicht-Beachtung des weiteren Textes – darauf hin analysiert, ob sie (a) eine oder mehrere der im ersten Schritt aufgestellten Lesarten (eher) zu bestätigen oder (eher) zu falsifizieren scheint, und (b) gegebenenfalls zu neuen Deutungshypothesen führt.
  • Extensivität: Es werden nur geringe Textmengen, diese aber höchst detailliert ausgewertet. Nicht nur sind alle Bestandteile der untersuchten Textsegmente zu analysieren, dies hat auch so ausführlich wie möglich zu geschehen, damit keine denkbare Deutungshypothese übersehen wird.
  • Sparsamkeit: Es sollen nur jene Deutungsmöglichkeiten in Betracht gezogen werden, die vom Text ›erzwungen‹ werden. Dieses Prinzip hat einmal eine forschungsökonomische Dimension (die Zahl denkbarer Hypothesen soll auf ein handhabbares Maß reduziert werden), vor allem aber eine forschungslogische: Es sollen – ohne Not – keine (außertextlichen) ›pathologischen‹, ›unvernünftigen‹ Einflüsse unterstellt werden.

Die praktische Analysearbeit sollte i. a. in Gruppen geschehen, weil dies aufgrund der Vermehrung von Perspektiven zu einer größeren Anzahl von Deutungshypothesen führt und vorschnelle Festlegungen auf eine Hypothese vermeiden hilft.

Literatur:

  • Oevermann, Ulrich/Allert, T./Konau, E./Krambeck, J.: Die Methodologie einer ›objektiven Hermeneutik‹ und ihre allgemeine forschungslogische Bedeutung in den Sozialwissenschaften, in: Soeffner, H. -G. (Hrsg.): Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften. Stuttgart: Metzler, S. 352-433
  • Reichertz, Jo: Probleme qualitativer Sozialforschung: zur Entwicklungsgeschichte der Objektiven Hermeneutik. Frankfurt/New York: Campus, 1986
  • Schneider, G.: Strukturkonzept und Interpretationspraxis der objektiven Hermeneutik, in: Jüttemann, G. (Hrsg.): Qualitative Forschung in der Psychologie. Weinheim, Basel: Beltz, 1985, S. 71-91
  • Wernet, Andreas: Einführung in die Interpretationstechnik der Objektiven Hermeneutik (Reihe: Qualitative Sozialforschung, Band 11). Opladen: Leske + Budrich, 2000

© W. Ludwig-Mayerhofer, ILMES | Last update: 30 Dec 1999