Biographische Forschung (engl.: Biographical Research)

Biographische Forschung (auch als Biographieforschung oder biographische Methode bezeichnet) meint eine Forschungsrichtung, die sich mit den Lebensverläufen von Menschen befasst. Im Unterschied zur Psychologie geht es dabei weniger um die Entwicklung der individuellen Persönlichkeit als vielmehr um die ›soziale Strukturierung‹ von Lebensläufen. Im Alltagsleben haben wir heute selbstverständliche Vorstellungen darüber, wie unser persönliches Leben bisher verlaufen ist, wie es jetzt verläuft, in welche Richtung es verlaufen wird – oder wir gerne hätten, dass es verläuft. Wir glauben zu ›wissen‹, wie wir wurden, was wir sind. Wir haben eine ›persönliche‹ Geschichte zu erzählen. Diese Vorstellung persönlicher Lebensläufe und -geschichten ist ein sich seit dem 18. Jahrhundert entwickelndes historisches Produkt der modernen Gesellschaft. Wir wissen auch, dass wir unseren Lebenslauf nicht völlig selbst kontrollieren. Wir sind eingebunden in soziale Gruppen, wir leben in spezifischen historischen Kontexten, wir sind von großen geschichtlichen Ereignissen mehr oder weniger betroffen. Wir entwickeln dabei bestimmte Vorstellungen von uns selbst, unserem Leben, Lieben und Arbeiten, unseren Bedürfnissen, Wünschen und Handlungsmotiven, von Schicksalsschlägen, die uns treffen. Biographische Forschung untersucht diese Phänomene eben unter dem Blickwinkel der sozialen Formung der Lebensläufe. Sie greift dabei sowohl auf persönliche Dokumente (z.B. Tagebücher oder Briefe) als auch auf lebensgeschichtlich orientierte, meist offen-narrative Interviews zurück.

Literatur:

  • Fischer-Rosenthal, W./Rosenthal, Gabriele: Narrationsanalyse biographischer Selbstpräsentationen, in: Hitzler, Ronald/Honer, Anne (Hrsg.): Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Opladen: Leske + Budrich, 1997, S. 133-164
  • Fuchs-Heinritz, Werner: Biographische Forschung. Opladen : WV-Studium, 1984, 2. (überarb. und erw.) Auflage 2000, 3. (überarbeitete) Auflage 2005 im VS Verlag für Sozialwissenschaften

Anwendungsbeispiele:

  • Bude, H.: Deutsche Karrieren. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1987
  • Haupert, B./Schäfer, F. J.: Jugend zwischen Kreuz und Hakenkreuz. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1991
  • Wohlrab-Sahr, Monika: Biographische Unsicherheit. Formen weiblicher Identität in der 'reflexiven Moderne'. Opladen: Leske + Budrich, 1992

© R. Keller, ILMES | Last update: 30 Dec 1999