Beobachtung (engl.: Observation)
1. Im Kontext der empirischen Sozialforschung versteht man unter Beobachtung einen spezifischen Zugang zu sozialen Phänomenen, bei dem Daten über die Untersuchungsobjekte nicht auf deren Auskunft beruhen (wie z.B. in der Befragung), sondern direkt durch den Forscher oder durch von ihm instruierte Personen erhoben werden. Die B. bezieht sich dabei im allgemeinen auf Verhaltens- , Handlungs- und Interaktionsformen, also auf overte, manifeste Phänomene, und wenn es auf zuverlässige Aussagen über das tatsächliche Verhalten von Menschen ankommt, dürfte die B. der Befragung meist überlegen sein (Diekmann 2007, S. 572). Gleichwohl spielt die Wahrnehmungs- und Aufnahmekapazität der ForscherInnen eine sehr wichtige Rolle.
Labor- vs. Feldbeobachtung: Zu unterscheiden ist zunächst zwischen der B. künstlich hergestellter Situationen und derjenigen ›natürlicher‹ Situationen, die nicht spezifisch auf den Forschungszweck hin arrangiert worden sind. Beispiele für den ersten Fall sind sozialpsychologische Experimente, etwa eigens arrangierte Gruppendiskussionen, deren Verlauf analysiert wird (man spricht hier auch von Laborbeobachtung. Als Beispiel für die B. ›natürlicher‹ Situationen (oder Feldbeobachtung)kann die Analyse von Gruppenstrukturen bei Jugendgangs gelten, wie sie von Whyte (1996) vorgenommen wurde.
Standardisierte vs. wenig oder nicht-standardisierte Beobachtung: Beobachtungsverfahren lassen sich weiter unterscheiden nach dem Grad der Standardisierung, dem die Protokollierung der Beobachtungen unterworfen ist. In den oben erwähnten experimentellen Settings, aber durchaus auch in ›natürlichen‹ Situationen wie etwa Klassenzimmern, Gerichtssälen usw. kommen häufig standardisierte, detaillierte und spezialisierte Codierschemata zum Einsatz, mittels derer die beobachtende Person Einträge macht (bspw. über die Art, Häufigkeit und Länge der Beteiligung einzelner Personen am Gruppengeschehen). Es wird also vor der Untersuchung festgelegt, was beobachtet werden soll, d.h., was im Hinblick auf die Forschungsfragestellung wichtig erscheint.
In diesem Kontext der standardisierten B. ist dann näher zu unterscheiden zwischen Erhebungsverfahren, bei denen die einzelnen ›Handlungszüge‹ der Akteure erhoben werden, und solchen, bei denen summarische Beurteilungen ihres Handelns/Verhaltens mittels Rating-Verfahren vorgenommen werden (Cairns/Greene 1979, Poole et al. 1987). Weiterhin wird unterschieden, ob von vornherein nur bestimmte Phänomene (Verhaltensweisen, Eigenschaften etc.) erhoben werden sollen, oder ob der Anspruch besteht, alle Verhaltensweisen nach einen bestimmten Schema zu klassifizieren. (In ersterem Fall spricht man von einem »Zeichensystem«, in letzterem von einem »Kategoriensystem«; diese Begriffe sind leider nicht sehr erhellend.) Das wohl bekannteste und auch heute noch gelegentlich gebrauchte Kategoriensystem wurde von Bales (1951) unter dem Namen »Interaction Process Analysis« veröffentlicht.
Der Grad der Vorstrukturierung der B. kann jedoch soweit abnehmen, dass zunächst gleichsam der Anspruch erhoben wird, ›alles‹ zu beobachten bzw. – weil dieser Anspruch selbstverständlich nicht einlösbar ist – aus dem untersuchten Phänomen heraus die wichtigen und festzuhaltenden Dimensionen der B. zu entwickeln. Dazu werden zunächst ausführliche schriftliche oder mündliche Protokolle der einzelnen B.-Situationen angefertigt, die im Laufe der Untersuchung auf spezifische Dimensionen hin strukturiert werden (können).
Teilnehmende vs. nicht-teilnehmende Beobachtung: Eine weitere Unterscheidung betrifft den Grad der Einbindung des Forschers oder der Forscherin in das Untersuchungsfeld. Man spricht von nicht-teilnehmender Beobachtung, wenn die ForscherInnen selbst nicht aktiver Bestandteil des Beobachtungsfeldes sind. Oft – gerade im Bereich der offenen B. in natürlichen Settings – ist B. aber nur durch eine mehr oder weniger aktive Teilnahme im Untersuchungsfeld möglich (teilnehmende B. (engl.: participant observation)).
Offene vs. verdeckte Beobachtung: Ein besonderes moralisch-ethisches (aber auch methodisches) Problem ergibt sich ferner dadurch, dass entschieden und verantwortet werden muss, ob eine B. offen, d.h. mit Wissen und Zustimmung der Beobachteten, oder aber verdeckt, d.h. ohne deren Wissen erfolgt. Obwohl bei einer offenen B. von einer Reaktivität der Beobachteten auszugehen ist, wird eine verdeckte B. nur in sehr wenigen, ganz besonderen Fällen gerechtfertigt sein. Verdeckte Beobachtung muss im übrigen nicht zwingend bedeuten, dass die Beobachterin oder der Beobachter sich de facto versteckt; auch und gerade teilnehmende Beobachtung kann verdeckt sein. Hier entstehen dann besondere Schwierigkeiten der Protokollierung, da Feldnotizen erst erstellt werden können, wenn das Feld verlassen wurde.
Als weitere wichtige Probleme gelten die methodische Kontrolle der Beobachtungsleistung (sehen die ForscherInnen nur, was sie sehen wollen?) und – bei der teilnehmenden B. – das »going native«, d.h. eine Überidentifikation mit dem Untersuchungsfeld, die letztlich zum Verzicht auf wissenschaftliche Analyse führen kann. Das Kontrollproblem kann u.U. durch eine Ergänzung der B. durch andere Methoden der Datenerhebung reduziert werden. Vor allem empfiehlt sich nicht nur eine intensive (ggfalls Selbst-)Schulung der BeobachterInnen, sondern eine Überprüfung von Inter- und Intra-Rater-Reliabilität.
Haupteinsatzfeld der B. im Bereich der qualitativen Forschung sind ethnologische oder ethnographische Analysen besonderer sozialer Gruppen oder Situationen. Häufig geht es dabei um eine fokussierte Ethnographie im Sinne Knoblauchs (2001).
Auswahl: Standardisierte wie unstandardisierte (qualitative) Beobachtung müssen in aller Regel eine Auswahl der zu beobachtenden Einheiten (z.B.: bestimmte Gruppen von Jugendlichen als Auswahl aus allen Gruppen Jugendlicher) ebenso wie der zu beobachtenden Situationen treffen. Die im Einzelfall getroffene Auswahl wird nur in den seltensten Fällen strengen Kriterien der Fallauswahl (Zufallsauswahl, Theoretical Sampling) entsprechen können; sie muss sich jeweils durch Forschungsinteresse, die Besonderheiten des jeweiligen Forschungsprozesses und schließlich auch durch die Ergebnisse legitimieren.
Auswertung: Während standardisierte Beobachtungen im Regelfall mittels geeigneter statistischer Verfahren ausgewertet werden können, ist die Auswertung unstandardisierter Feldnotizen und Beobachtungsprotokolle schwer in Regeln zu fassen bzw. kanonisierbar – und nicht wenige Forschende lehnen die Idee vorab formulierter Verfahren für qualitative Beobachtungsdaten ab, weil von der Erstellung von Protokollen bis zur Formulierung der Ergebnisse die Besonderheiten des jeweiligen Untersuchungsfalles ebenso wie die der forschenden Person letztlich die entscheidende Rolle spielen. Die in Deutschland recht elaborierten Auswertungsverfahren für qualitative Daten (etwa die dokumentarische Methode oder die Objektive Hermeneutik) beziehen sich größtenteils auf Interviewdaten oder exakte Protokollierungen sozialer Praktiken (also etwa die Transkription von Interaktionssequenzen); es wurde zwar wiederholt vorgeschlagen, solche Verfahren auch auf Beobachtungsprotokolle anzuwenden (zuletzt: Thierbach/Petschick 2014, S. 865), es gibt jedoch gute Gründe, dieser Empfehlung nicht oder nur in speziellen Fällen zu folgen (Lüders 2000).
2. In der konstruktivistischen Erkenntnistheorie (insbesondere jener Spielart, die manchmal als »radikaler Konstruktivismus« bezeichnet wird), wird als B. der fundamentale Sachverhalt bezeichnet, dass Erkenntnisse immer von beobachtenden Subjekten erzeugt werden, dass es also keine beobachtungs-unabhängige Erkenntnis geben kann. In den Worten eines Experten:
»Kein Beobachter hat es mit der ›Realität‹ an sich zu tun, sondern stets nur mit seiner ›selbsterzeugten Erfahrungswirklichkeit‹.
›Objekte‹ sind keine Gegenstände in einer der Erkenntnis vorausliegenden Realität, sondern relativ stabile ›Eigenwerte‹ eines fortlaufenden Beobachtungsprozesses eines wirklichkeitserzeugenden Beobachters!
›Subjekte‹ sind keine den wirklichkeitserzeugenden Prozessen zugrunde liegenden Instanzen, sondern selbst per Beobachtungsoperationen generierte Konstrukte!«
(Bardmann 1997, S. 9.).
Im Text zitierte Literatur:
- Bales, R. F.: Interaction Process Analysis. Chicago: Chicago University Press, 1951
- Bardmann, Th. M.: Einleitung, in: ders. (Hrsg.): Zirkuläre Positionen. Konstruktivismus als praktische Theorie. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1997, S. 7-18
- Cairns, R. B./Green, J. A.: How to Assess Personality and Social Patterns: Observations or Ratings?, in: Cairns, R. B. (Hrsg.): The Analysis of Social Interactions: Methods, Issues and Illustrations. Hillsdale, NJ: Erlbaum, 1979, S. 209-226
- Diekmann, Andreas: Empirische Sozialforschung. Grundlagen, Methoden, Anwendungen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2007 (18. Auflage).
- Knoblauch, Hubert: Fokussierte Ethnographie: Soziologie, Ethnologie und die neue Welle der Ethnographie, in: Sozialer Sinn 2, 2001, S. 123-114.
- Lüders, Christian: Beobachten im Feld und Ethnographie, in: Flick, Uwe/ von Kardorff, Ernst/Steinke, Ines (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbek bei Hamburg: rowohlt, 2000, S. 384-401
- Poole, M. S./Folger, J. P./Hewes, D. E.: Analyzing Interpersonal Interaction, in: Roloff, M. E./ Miller, G. R. (Hrsg.): Interpersonal Processes: New Directions in Communication Research. Newbury Park: Sage, 1987, S. 220-256
- Thierbach, Cornelia/Petschick, Gritt: Beobachtung, in Baur, Nina/Blasius, Dirk (Hrsg.): Handbuch der Methoden der empirischen Sozialforschung. Wiesbaden: Springer VS, 2014, S. 855-866
- Whyte, W. F.: Die Street Corner Society. Die Sozialstruktur eines Italienerviertels. Berlin/New York: de Gruyter, 1996
Einführungsliteratur zum Thema:
- Faßnacht, Gerhard: Systematische Verhaltensbeobachtung. Eine Einführung in die Methodologie und Praxis. Zweite, völlig neubearbeitete Auflage. München, Basel: Ernst Reinhard Verlag, 1995
- Lüders, Christian: Beobachten im Feld und Ethnographie, in: Flick, Uwe/ von Kardorff, Ernst/Steinke, Ines (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbek bei Hamburg: rowohlt, 2000, S. 384-401
- Schlipphak, Bernd/Treib, Oliver/Gehrau, Volker: Die Beobachtung als Methode in der Politikwissenschaft. Konstanz/München: UVK (UTB NR. 5101), 2020
- Weischer, Christoph/Gehrau, Volker: Die Beobachtung als Methode in der Soziologie. Konstanz/München: UVK (UTB NR. 4862), 2017
© R. Keller, W. Ludwig-Mayerhofer, ILMES | Last update: 04 Dec 2020